Die Geschichte vom Spionage-Osterhasen Namens Wladimir P.

Vor langer Zeit, wir schreiben das Jahr 2022, da trieb ein Osterhase auf der Welt sein Unwesen. Sein Name war Wladimir. Wladimir Puschkow.

So stand es jedenfalls in seinem Hasenausweis. Ob dieser echt war, das wusste niemand so genau. Der Spionage-Osterhase war mit seinen 34 Jahren der wohl älteste Osterhase weltweit und lebte in den Wäldern der Schweiz. Wladimir hatte kein einfaches Leben, er war als junges Kaninchen aus den Tiefen Sibiriens abgehauen. Seine Hasenfreunde aus der westlichen Welt, mit denen er in telepathischem Kontakt stand, erzählten ihm, wie schön das Leben hierzulande wäre. In Sibirien war es Wladimir Mitte der 90er etwas langweilig – es war zwar schön, wild und abenteuerlich – doch lebten die Tiere sehr weitläufig verstreut. Der Hase wollte noch etwas von der Welt sehen, mehr und mehr packte ihn der Entdeckergeist und so folgte er den Frohlockungen seiner Hasenfreunde aus dem Westen.

Im Jahre 1998 flüchtete er. Via die baltischen Staaten, Polen und Deutschland gelang ihm die Flucht aus Russland und er landete in der Schweiz, in welcher er fortan und über viele Jahre lebte. Es gefiel ihm ganz gut – besonders die Berge und die Natur hatten es ihm angetan, alles war etwas näher beieinander, die Tiere kannten sich untereinander, waren gut vernetzt. Schnell einmal baute sich Wladimir seine Nischenplätzchen in den hoch gelegenen Wäldern der Alpen. Über die Jahre schloss er viele Freundschaften mit anderen Tieren, mit Füchsen, Rehen, Wölfen oder Eichhörnchen. So lernte er die deutsche Sprache und brachte im Gegenzug den anderen, hiesigen Tieren etwas russisch bei.

Wladimir sah aus wie ein gewöhnlicher Hase, aber er war anders. In seinem Wesen etwas karg, aber herzlich. Er war intelligent und durch seine Fluchterfahrungen sehr weise, wusste ständig, wo er verweilen konnte und wo die Gefahren der Menschen oder der Jäger lauerten. Waren sie hinter ihm her, war er längst zwei Täler oder drei Berge weiter.

Mit zunehmender Dauer in der Schweiz wurden die heimischen Tiere auf Wladimir aufmerksam. Der Fluchthase fing an, gar Waldseminare anzubieten, um damit den anderen Tieren seine Fähigkeiten zu erlernen. Die Tiere waren schon damals etwas weiter als die Menschen, konnten sie doch sehr wohl miteinander kommunizieren und lebten zwar schlicht und einfach, aber gänzlich nach ihren Sinnen in purem, klaren Bewusstsein.

Durch die Seminararbeit konnte sich der Hase einen kleinen Verdienst erwirtschaften, mit dem er hie und da nachts, wenn die Menschen schliefen, in ländlichen Gebieten in einen Dorfladen eindrang und sich einen Sack Karotten und eine Flasche Wodka beschaffte. Das musste einfach sein. Und das Zeugs klaute er nicht etwa, nein, er legte das Geld jeweils im Supermarkt auf den Tresen, denn die Menschen, die scheute er.

Ab und an lief er mal einem über den Weg, aber es kam kaum einmal vor das diese den Hasen bemerkten. Bis auf ein Mal. Es war im Jahre 2020. Als er spätabends durch ein kleines Dorf im Oberengadin hüpfte, begegnete er einem älteren Mann. Der Mann schrie ihn an: „Hau ab in den Wald, wo du herkommst! Und wenn du schon hier herumstolzierst, dann hast du gefälligst eine Maske zu tragen und dich an die Regeln der Menschen zu halten“ – etwas konsterniert und enttäuscht von dieser Begegnung trottete der Hase weiter. Aber das konnte er einfach nicht so auf sich sitzen lassen – so nicht mit mir – dachte er sich. Er drehte sich um und folgte dem Mann in sein Zuhause. Als der Mann sich schlafen legte, ging der Hase in sein Arbeitszimmer. Dort entdeckte er ein iPad. Der Hase fragte sich, was es mit diesem Gerät wohl auf sich hatte. Und nahm es mit.

Ein cleverer Schachzug. Denn Wladimir hatte eine weitere Gabe, er konnte lesen und schreiben. Von diesem Moment an zog er sich im Wald zurück und studierte die Geschichte und die Philosophien der Menschheit. Jetzt wollte er alles wissen. Er wollte wissen, was in den Köpfen der Menschen vorging, warum sie so sind, wie sie sind, und vor allem auch, was es mit dieser Maske auf sich hatte. Mehr und mehr kam er der Sache auf die Spur. Oje, dachte er sich und schüttelte einfach nur noch die Pfoten.

Die Zeit verging, der Hase wurde älter und schwächer. Es tat ihm nicht gut, sich mit den Nachrichten dieser Welt auseinanderzusetzen. Er fragte sich oft, ob es lohnenswert war, sich dieses elektrische Gerät anzuschaffen resp. auszuhändigen. Natürlich, es war witzig, Selfies zu knipsen. Aber Wladimir vermisste das einfache Leben. Gänzlich ohne Nebengeräusche, einfach zu sein. Die Waldluft einatmen. Pflanzen fressen. Verstecke bauen. Die Nacht zum Tag und hie und da einer anderen Häsin schöne Augen machen. Oder ein Bad im Bach. Wilde Beeren pflücken. Und natürlich: sein Revier bewachen. Erst seit er dieses Teil besaß, realisierte er, welch Geschenk das Leben vorher war und wie sehr die äußeren Einflüsse eben auch seinen Geist benebelten.

Aber der Hase hatte jetzt eine Mission und im Zuge seiner Recherchen erkannte Wladimir auch, dass in seiner Heimat Krieg ausgebrochen war. Das nahm ihn mit, weckte aber auch seine Urinstinkte. Er stand etwas zwischen den Fronten, sein Vaterhase war Russe, seine Mutterhäsin Ukrainerin. Wladimir recherchierte auf verschiedenen Seiten, auf westlicher, ukrainischer und russischer, sammelte viele wertvolle Informationen und die wollte er dann auch weitergeben. Aber wie, wie konnte er die Menschen nur erreichen? Ein schwieriges Unterfangen.

Wladimir hatte eine Idee. Er erstellte sich einen Mail-Account und entdeckte im Internet einen Schweizer Blogger. Die Seite hieß gnueheudunge.ch. Wer dahinterstand, interessierte den Hasen wenig, aber die Kuh, die Kuh auf der Titelseite, die gefiel ihm. So nahm er Kontakt zum Betreiber der Seite auf.

Am anderen Ende der Leitung staunte der Schreiber nicht schlecht, als plötzlich Mails in seinem Posteingang auftauchten mit der Adresse wladimir.p@waldspionage-schweiz.ch. Wer das bloß ist, dachte er sich und fiel vor lauter Schock schier aus seinem Büro-Sessel. Nun gut, wichtig ist der Inhalt. Und der Lesestoff hatte es ganz schön in sich, war faktisch korrekt, immer quellen fundiert und der Schreiber konnte die investigative Arbeit des Hasen natürlich gut für seine Seite gebrauchen. Mit der Zeit und über die Wochen begannen die beiden auch über das Leben zu philosophieren und es entwickelte sich eine Art Mail-Freundschaft. Kurz vor Ostern entschied sich der Osterhase spontan dazu, den Schreiber zur alljährlichen Ostersamstag-Waldtierfestnacht einzuladen.

Ohne zu wissen, was ihn erwartete, nahm der Betreiber der Seite das Angebot dankend an. Wieso nicht, ein willkommenes Abenteuer und so machte er sich Ostersamstag-Abend auf den Weg Richtung Oberengadin. Durch schmale Straßen führte ihn die Wegbeschreibung des Hasen immer mehr in die Wildnis. Irgendwann waren dumpfe, aber klare Tiergeräusche zu hören. Die Stimmung hatte etwas Zauberhaftes, der Vollmond schien und leuchtete hell wie lange nicht mehr, die Nacht war sternenklar, und von weitem war ein wunderschönes Lagerfeuer zu sehen. Ein Moment um kurz einmal voller Demut dem Leben gegenüber an- und innezuhalten und die Seinskraft einzuatmen. Dann ging’s weiter, beim Lagerfeuer angekommen traute der Schreiber seinen Augen nicht; hunderte von Tiere waren gemeinsam versammelt. Was für ein schönes, unwirkliches Bild!

Wladimir stellte sich vor und machte den Menschen seinen Tierfreunden bekannt. Alle waren sie da, vom Luchs, über den Bären, zum Adler, sogar das Schneehuhn und die Waldschildkröte. Friedlich ums Feuer versammelt zelebrierten sie das Miteinander. Der Hase erklärte, dass dies ihr Feiertag zu Ehren der Schöpfung sei und dass an diesem Abend ein Ehrencodex bestünde, dass kein Tier das jeweils andere fressen dürfe.

Die Nacht war ein Fest. Es wurde gesungen, getanzt, gefeiert und die Stimmung war ausgelassen. Unvorstellbare Szenen spielten sich ab, links vom Feuer flirtet die Ente mit dem Igel und rechts davon kriegen sich der Wolf und das Schaf vor lauter Lachen kaum mehr ein. Na ja, zumindest bis etwa drei Uhr in der Früh. Dann hielt Wladimir eine Ansprache. Plötzlich war es mucksmäuschenstill. Alle schienen fokussiert. Der Hase hatte die Tiere die letzten Wochen über die Geschehnisse auf der Welt aufgeklärt, sie wussten, dass es nicht gerade gut um die Menschheit steht. Also entschieden sie sich an diesem Abend dazu, das Ruder von nun an selber in die Hände zu nehmen. Auf einer großen Karte wurden sorgfältig Gebiete eingezeichnet und verteilt. Jedes anwesende Tier erhielt seinen Kompetenzen entsprechend ein Gebiet, in welchem es dann stillschweigend und leise, aber allzeit bereit für die Menschen sorgen würde.

Als nach gut einer Stunde sämtliche Gebiete abgedeckt waren, wurden die Fackeln gezündet und in großem, runden Kreise in die Höhe gehoben. In den Augen der Tiere war eine Entschlossenheit zu erkennen, wie sie diese bei den Menschen schon lange nicht mehr zu sehen war. Dann wurde ein Pakt verabschiedet. Der Pakt, bis zur nächsten Ostersamstag-Waldtierfestnacht im Jahre 2023 das Dunkle in die Ferne zu treiben. Die Zeit der Tiere war jetzt gekommen, für ein paar Minuten war es absolut ruhig und alle Anwesenden konzentrierten sich im Innern auf ihre jeweilige Aufgabe. Um dann, mit einem lauten, aber dynamischen „Viva la Revolucion des Animales!“ die Stille aufzulösen und sich noch einmal gegenseitig alles Gute und viel Kraft für die jeweilige, bevorstehende Herausforderung zu wünschen.

Die Versammlung löste sich allmählich auf und die Tiere gingen wieder ihre eigenen Wege. Auch der Schreiber, komplett weggeflasht von den Geschehnissen an diesem Ostersamstag-Abend, machte sich kurzum auf die Rückreise. Bevor er sich aufmachte, ging er nochmals bei Wladimir vorbei, um die Hände resp. Pfoten zu schütteln und sich für dieses eindrückliche Fest zu bedanken und sich zu verabschieden. Der Hase bedankte sich seinerseits, er würde ihn auch weiter auf dem Laufenden halten und drückte ihm zum Schluss noch einen kleinen, geheimnisvollen Zettel in die Hand. Auf dem Zettel stand:

Die Worte sind leider nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Geschätzte Leser, das war’s von dieser kurzen Ostergeschichte. Jetzt ist Ostern auch schon wieder vorbei. Aber das ist nicht schlimm. Nun wissen Sie ja, wenn es Ihnen bis zum nächsten Osterfest mal nicht so gut geht, es da draußen ein Lebewesen gibt, dass Ihr Gebiet bewacht. Vielleicht sind Sie auch ab und an in der Natur oder in der Wildnis unterwegs und wenn Sie etwas aufmerksam sind, werden Sie ihm plötzlich über den Weg laufen und in die Augen schauen. Vielleicht wird Ihnen das Tier dann etwas mitteilen, dass auch nur Sie verstehen

Wir wünschen einen allseits guten Start zurück im Alltag. Grüssen Sie Ihren Osterhasen – ob das jetzt Wladimir der Fluchthase, Ivan der Schreckliche, oder Giorgio der Fröhliche ist mögen sie uns auch weiter mit etwas Lebenskraft beschenken.

Ah und bevor ich’s vergesse, nein, der Spionage-Osterhase hat nichts mit dem russischen Präsidenten zu tun. In diesem Sinne: Frohes Eier tütschen, sofern noch eines übrig geblieben ist. 😉

2 Antworten auf „Die Geschichte vom Spionage-Osterhasen Namens Wladimir P.“

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